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Gedanken…


Tanja 5462 Sprüche - 12. April 2013

Verzichten rockt?


Nur dem wird kein Leid widerfahren,
der nichts sein Eigen nennt.
(Spruch 7316)


Christian hat diesen Spruch erklärt mit der diese buddhistische Lehre aus dem Dhammapada:

221
Den Zorn gib auf, den Stolz! Lös' dich von allen Banden!
Wo man nichts wünscht, nichts' hat, da ist kein Leid vorhanden.


Der Gedanke ist kein Alleingut des Buddhismus, die positive Seite des Verzichtens kommt auch beispielsweise in der Stoa vor. Oder im Film "Fight Club": "Alles was du besitzt, besitzt irgendwann dich". Oder im Sprichwort "Weniger ist mehr".
Und weil Leidlosigkeit erstrebenswert ist, wäre das doch eine gute Idee, um sein Leben zu gestalten.
Auch in der westlichen Welt erfreut sich der Buddhismus einer gewissen Beliebtheit. Er gilt als sehr friedfertig und bietet eine gewisse Gegenbewegung zur Konsum- und Leistungsgesellschaft. Sich auf das Wesentliche besinnen, wenig begehren, in sich ruhen, Erlösung finden – klingt doch sympathisch.

Ich denke, das ist Blödsinn.
Also nicht der Buddhismus als solcher, aber doch der Teil mit dem „nichts besitzen, nicht wünschen“.

Gehen wir mal zunächst von Luxusgütern aus.
Ich habe Ohrringe, die ich hin und wieder trage. Ich habe ein Shampoo, dass sicher dreißig Cent teurer als das Billigste war. Ich habe mir neulich Antipasti gegönnt, so kleine eingelegte Kirschpaprika – sehr lecker, aber ohne jede Notwendigkeit.
Ich kann auf diese Dinge verzichten. Problemlos. Wenn am Ende des Geldes noch viel Monat übrig ist, sind solche Dinge sicher die ersten, die bei mir wegfallen. Und im Fall der Antipasti sollte ich vielleicht auch so zukünftig verzichten, weil ich später gesehen habe, dass sie aus Südafrika importiert wurden - ein weiter Weg für 150 Gramm Genuss.
Aber wenn ich solche Dinge haben kann, ohne, dass ich dadurch Pleite bin oder andere Nachteile entstehen – wieso sollte ich?

Ich genieße diese Dinge, aber ich fühle mich durch sie nicht in irgendeine Abhängigkeit getrieben.
Somit kann ihr Fehlen auch kein großes Leid bei mir erzeugen.

Also kommen wir zu Gütern, die schon etwas wichtiger für mich sind.
Ich habe beispielsweise einen Laptop. Ich arbeite darauf für's Studium, höre mir Musik an, lese Artikel im Internet, schreibe Gedanken – und zu allem Überfluss ist er wunderschön dunkelrot.
Ich finde meinen Lappie also große Klasse, weil er mir viel ermöglicht, viel erleichtert und mir nach langer Gewöhnung an meinen urst langsamen (und ausgesprochen unmobilen) Computer als ein großer Segen erscheint.
Wenn dieser geliebte Lappie nun kaputt geht, werd' ich mich sehr ärgern, aber auch nicht dran sterben. Dann sattle ich erst mal wieder auf meinen acht Jahre alten Computer um.
Wenn ich den Laptop jetzt aber wegschmeiße und gleich zum Computer (oder gleich gar keinem PC) übergehe, nur um das Leid zu vermeiden, möglicherweise dereinst vor einem kaputten Lappie zu stehen - dann mache ich mir das Leben einfach nur unnötig schwer.

Wieso sollte ich auf alles verzichten? Reicht es nicht, wenn ich innerlich distanziert genug bin, um mit dem Verlust fertig zu werden?

Aber wieder sollte Verzicht nur das Materielle umschließen? Ich leide ja auch unter einem Verlust, wenn er etwas Nicht-Materielles umfasst.
Kommen wir also zum Sozialen. Ich bin kein umschwärmter Mensch, aber ich habe ein Umfeld, dass mich freundlich behandelt. Wenn ich mich in die Mensa setze, rücken die Menschen nicht drei Stühle weiter. Wenn ich in einem Seminar eine falsche Antwort gebe, bewirft mich niemand mit faulen Tomaten. Das ist durchaus angenehm. Nein, ich habe sogar Freunde, bekomme hier und da ein Kompliment und viele meiner Profs haben Humor und Geduld. Ich habe Komilitonen, mit denen ich auf einer Wellenlänge liege, und Mitbewohner, mit denen ich auch mal kochen oder ins Kino gehen kann. Das schätze ich sehr.
Ja, vielleicht sollte man sich auch an diese Dinge nicht binden. Vielleicht sollte man imstande sein, mit miesen Mitmenschen klarzukommen und Einsamkeit zu überdauern.
Sein wir ehrlich: Ich mag es, öfter mal alleine zu sein, und ich komme klar, wenn ich neu in einer Stadt bin und erst mal auf mich gestellt bin. Aber ich möchte nicht langfristig so leben müssen.
Ich binde mich an Menschen und einige von ihnen sind nicht austauschbar. Ich mag es, von ihnen zu hören und Zeit mit denen zu verbringen. Und wenn ich irgendwann an ihrem Grab stehen muss, werde ich wohl heulen.

Macht mich das abhängig? Ja, ein bisschen, weil es mich verletzlich macht.
Aber ich glaube, keine Freundschaften zu schließen und sich an niemanden zu binden ist noch deutlich schmerzvoller, als es zu tun und dabei in Kauf zu nehmen, dass andere einen verletzen, Freundschaften enden und Menschen sterben können.

Aber auch das ist nicht die Spitze des Leidensdruckes.
Nehmen wir meine Beine. Es geht jetzt nicht darum, wie meine Prachtwaden unter einem Sommerkleid aussehen, sondern um das grundsätzliche Vorhandensein.
Beine sind praktisch. Man kann mit ihnen spazieren gehen, unwegsames Gelände erkunden, sporteln, jemandem in den Hintern treten, in letzter Sekunde die S-Bahn erreichen oder ohne aufzustehen eine auf dem Boden liegende CD-Hülle zu sich rüberziehen. Das meiste davon ist im Rollstuhl oder mit Prothesen deutlich schwerer.
Ich finde es also verdammt gut, Beine zu haben. „Nichts haben, nichts wünschen“? Vergesst es.
Wenn ich durch einen tragischen Unfall meine Beine verlieren würde, wäre das grausam. Vielleicht würde ich mich langfristig auch daran gewöhnen.
Aber ich käme ja wohl nicht im Traum auf die Idee, mich innerlich von meinen Beinen zu distanzieren oder mein Leben so zu führen, dass sie für mich keine wesentliche Rolle spielen - nur, damit ich durch ihren Verlust nicht verletzt werden kann.
Und wenn irgendein buddhistisch angehauchter Idiot jungen Minenopfern erklären würde, dass sie einfach nicht genug in sich ruhen, wenn sie ihren ehemaligen Beinen so hinterhertrauern, dann möge den jemand verhauen. Mit Wucht.

Was das ultimativ Letzte ist, von dem man sich distanzieren könne, darüber kann man sicher streiten. Klassischerweise steht an dieser Stelle das Leben. Schon Epikur war der Meinung, man solle so aus dem Leben scheiden können, wie man von einer vollen Tafel aufsteht. Man hat seinen Cocktail noch nicht ausgetrunken und es ist auch bedauerlich, dass der Nachtisch noch nicht da war – aber prinzipiell ist man satt und somit bereit, zu gehen. Ich schätze mal, die Buddhisten sehen das grob ähnlich.
Ich mag das Bild. Vielleicht ist es auch eine weise Einstellung.
Ich bin trotzdem nicht im geringsten bereit, zu gehen. Ich bin schwer lebenshungrig.
Und wenn es auch weise sein mag, den Tod jederzeit mit Fassung ertragen zu können, so ist es doch nach landläufiger Meinung von Psychotherapeuten und Krankenkassen gesünder, es nicht drauf ankommen zu lassen.

Wenn ich mal sterben muss, dann hoffe ich, dass auf meinem Grabstein das stehen kann, was Reinhard Mey mal so treffend formulierte:

Hier liegt einer, der nicht gerne, aber der zufrieden ging.

Diese Zufriedenheit habe ich bisher nicht.
Und auch allen anderen Bereichen will ich nicht verzichten, will mich noch nicht mal weniger binden. Ich will meinen Lappie und meine Freunde haben. Ich will Zukunftspläne, ich will mir Dinge wünschen. Ich schätze sogar meine kleinen Überflüssigkeiten.

Weniger ist nicht mehr.
Weniger ist manchmal sinnvoll. Lehrt Demut, lehrt Dankbarkeit oder sorgt einfach für etwas weniger Ressourcenverschwendung. Tolle Sache.
Aber ich genieße aufrichtig, dass ich an den Stellen, an denen ich durch meinen Besitz und meine Wünsche nicht unmittelbar Leid auslöse, einfach besitzen und wünschen darf.
Das ist einfach - mehr.

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